Müde

Wie kannst du nur!“, mehr Vorwurf als Frage.
Aber dir geht es doch gut, du hast alles was du brauchst, was willst du mehr?!

Ihre Freundin machte sie wütend, enttäuschte sie.
Sehr lange hatte sie überlegt, gründlich nachgedacht.
Sie hat es sich nicht leicht gemacht mit ihrer Entscheidung, sie einzuweihen, denn noch hatte sie nicht mit dem Mann darüber gesprochen.
Schlecht fühlte sie sich deswegen, hundsmiserabel.

Ich möchte so nicht mehr leben. Ich werde mich trennen, ich werde ausziehen.“ sagte sie.
Du spinnst doch, Lynn! Wie willst du denn allein zurechtkommen, hast du dir das mal überlegt? So einen Mann wie ihn findest du niemals wieder, gerade du, die du so komisch bist!

Erneut kommt die Wut in ihr hoch. War nicht sie es, die immer sagte: „Wie hältst du ihn nur aus? Wie kannst du dir das gefallen lassen?“?
Und nun diese Vorwürfe.

Sie hatte sich das Treffen anders vorgestellt, hatte darauf geachtet, mit ihrer Freundin allein zu sein, ungestört. Ohne den Sohn, den sie zwar mochte, brav und gut erzogen, der aber stets alles anfasste und die Dinge in der Wohnung nicht an ihrem Platz ließ.
Kuchen hatte sie gebacken, den Tisch schön geschmückt, gemütlich hatte es werden sollen.

Ganz vertraut hatte es sein sollen, ganz intim, nur sie und ihre Freundin.

Mit Erstaunen hatte sie gerechnet, mit Fragen, aber nicht mit Vorwürfen. Ein wenig Verständnis hatte sie sich erhofft und vor allem ihre Hilfe, denn sie weiß nur zu gut, dass sie das alles allein nicht schafft.

Die Freundin sprach, doch sie hatte Mühe, dem Gespräch zu folgen, hatte abgeschaltet, war wieder geflüchtet in ihr kleines Reich, in ihre heile Welt.
Die Zeit verstrich qualvoll langsam, bis sich die Freundin endlich verabschiedete.

Wieder allein kamen Zweifel in ihr auf.

Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ist das Zusammenleben mit ihm denn wirklich so schlimm?

Sie schüttelte den Kopf, verscheuchte die Gedanken. Nein, schlimm war es nicht.
Nicht schlimm, aber.. gleichgültig. Teilnahmslos. Egal.

Und deswegen durfte sie sich nicht entmutigen lassen, musste weitergehen. Gleich morgen würde sie sich Hilfe holen, sich beraten lassen.

Wichtige Schritte mussten unternommen werden, eine Wohnung finden, Möbel besorgen, sie würde in Zukunft allein einkaufen, alles allein regeln müssen.

Und natürlich die Scheidung. Sie musste mit ihrem Mann sprechen, gleich morgen. Bevor es die Freundin tat. Ob sie es ihr zutraute? Nach dem „Gespräch“ von heute konnte sie es nicht ausschließen.

So viel zu tun. Sie fühlt sich müde, müde, so müde.

Ich muß endlich aufhören zu träumen, endlich der Realität ins Auge sehen. Nicht immer flüchten, nicht den Problemen mit meinen Träumerein aus dem Weg gehen.
Morgen werde ich eine Beratungsstelle aufsuchen und mir helfen lassen. Es wird schwer werden, aber ich werde es schaffen.

Wach endlich auf, Lynn, werd endlich erwachsen!
romeomikezulu - 17. Jul, 22:18

Aber Du bist doch schon dabei, aufzuwachen.
Das heisst aber nicht, dass Du aufhören dürftest, zu träumen, niemals ;-)

Deine Müdigkeit kommt daher, dass die emotionale Situation Deine ganze Kraft abzieht. Das Für und Wider immer und immer wieder im Kopf durchzudenken, ist ein Kraftakt sondergleichen für die Seele.

Keine Sorge - wenn Du es im Gefühl hast, dass Du jetzt das Richtige zu tun im Begriff bist, dann kehrt die Kraft in Dich zurück, sobald Du reinen Tisch gemacht hast und anfängst, Deine neue Bleibe zu suchen. Versprochen.

Bei dieser Gelegenheit hast Du gleich auch etwas über Deine Freundin gelernt, leider. Du hättest es sicher erwähnt, wenn Sie Dich wenigstens einmal nach dem Warum gefragt hätte, wenn Sie hätte wissen wollen, was Dich nun schlussendlich dazu gebracht hätte, wenn Sie Dir ihre Hilfe in den nächsten schweren Tagen angeboten hätte. Situationen wie genau diese bringen Einem am Meisten etwas über die Menschen um sich herum bei.

Falls Du mit Deinem Mann noch nicht gesprochen hast: Triff Dich mit ihm ausserhalb Eurer Wohnung, wenn es geht an einem neutralen Ort. Irgendwo in der Stadt vielleicht. Glaube mir, Du wirst in den Minuten danach, wenn es vorbei und er gegangen ist, froh sein, Menschen und Lautstärke um Dich herum zu haben.

Ich werde morgen zwischendrin mal an Dich denken.
Viel Glück.

Lynnie - 17. Jul, 22:41

Ich danke dir

für deine Worte.
Meine Freundin hat mich nicht nach dem "Warum" gefragt, sie reagierte mit großem Unverständnis. Und irgendwie fehlte mir plötzlich die Kraft, ich mochte mich auch nicht rechtfertigen müssen.
Ich denke nicht, dass sie mir jetzt und in Zukunft eine große Hilfe sein wird.

Und vielen Dank für deinen Tip, ich denke auch, dass das Gespräch sachlicher ablaufen wird, wenn wir es an einem neutralen Ort führen.

Ich werde merken, dass du an mich denkst, wenn es in meinen Ohren kitzelt! :-)
Muschel - 17. Jul, 22:19

Eine solch tolle "Unterstützung" im Sinne von "das schaffst du nicht" habe ich in jungen Jahren auch mal erfahren. Quatsch, ich habe noch viel mehr geschafft. Immer einen Schritt nach dem anderen. Viele Schritte davon gingen ins Ungewisse, scheinbar Bodenlose, aber ich fand jedes Mal verblüffend schnell neuen Boden unter den Füßen und konnte den nächsten Schritt tun. Eine wichtige Erfahrung, von niemandem wirklich abhängig zu sein.

Vor einigen Jahren habe ich eine Beziehung beendet, die harmonisch und gut war. Gut? Nulllinie, keine Spannungen, keine Reibungen. Nein, da ziehe ich einen anspruchsvollen Streit vor. Ich fand es sehr schwer damals, die Trennung durchzuziehen, denn es gab ja keinen Vorwurf, eigentlich nicht mal eine Begründung außer dieser unsäglichen Langeweile.
Heute ist übrigens auch er dankbar, dass ich damals die Kraft für den Schritt hatte. Mit seiner heutigen Lebensgefährtin ist er glücklicher als mit mir.

Ich wünsche Dir Mut und Kraft.

Lynnie - 17. Jul, 22:50

Das hört sich alles sehr gut an!
Ich wäre auch gerne unabhängig, aber im Moment traue ich mich noch nicht einmal mir das vorzustellen.

In unserer Ehe scheint alles eingeschlafen; keine persönlichen Gespräche, keine Gefühle und wenn dann nur negative, aber wie bei dir noch nicht mal einen richtigen Streit.

Ich denke, deswegen wird mich auch niemand verstehen können, denn nach außen hin sind wir das perfekte Paar, mein Mann fürsorglich, fleißig und aufopferungsbereit. Aber ich empfinde nun mal keine Liebe mehr für ihn.
Langeweile, ja, das trifft es und so langsam entwickelt sie sich zur Abneigung.

Danke für deine Wünsche, ich kann Mut und Kraft gut gebrauchen. :-)
syra_stein - 17. Jul, 22:22

Von nichts und niemandem entmutigen lassen, schon garnicht von der Freundin. Als ich damals (ich war 40) mit Menschen aus meinem eigenen sehr vertrauten Umfeld über die beabsichtigte Trennung sprach, bekam ich Kanonenfutter von allen Seiten. "Wie kannst du nur..., wie kannst du so was machen,... du bist bescheuert, überleg doch mal, wie gut es dir bei ihm geht...., bist du denn des Wahnsinns?, das willst du alles aufgeben?, die finanzielle Sicherheit...." Es fragte niemand danach, warum ich mich trennen wollte. Als ich auszog, nahm ich nur meine persönlichen Sachen mit, hatte noch nicht einmal ein eigenes Bett, sondern eines, welches eine Freundin mir geliehen hatte. Die kleine Wohnung noch nicht renoviert, zog ich dort ein. Zwei Wochen lag ich im Bett, heulte Rotz und Schnoppen, kotzte, hatte Migräne. Die eine Freundin hielt die Hand, die andere kochte Hühnersuppe. Es war nur die Angst, und die Unsicherheit, auch deshalb, weil ich mit der Trennung auch gleich meinen Job verlor. Eines allerdings merkte ich trotz der vielen Tränen bereits nach zwei Tagen... ich konnte wieder atmen! Ich wußte, daß es die für mich richtige Entscheidung war. Hab Mut... geh zur Beratungsstelle. Ich wünsch Dir nur Gutes!

Lynnie - 17. Jul, 23:07

Danke Syra!

Noch nicht einmal von eng vertrauten Personen Verständnis zu bekommen ist wirklich sehr traurig.
Vor allem, wenn ich mir überlege, wie lang meine Freundin und ich uns schon kennen.

Ein paar wenige persönliche Sachen werde ich mitnehmen, das meiste werde ich auch zurück lassen, ich möchte mein neues Leben auch komplett neu gestalten.

Zum Glück kann ich von zu Hause aus arbeiten und mir meine Zeit selbst einteilen, so dass ich wegen dem Umzug hoffentlich deswegen keine Probleme haben werde. Eventuell nehme ich mir ein paar Tage Urlaub, bis alles eine gewisse Normalität erreicht hat.

Ich hoffe, dass ich eine gute Beratungsstelle finde und jemanden, der mit mir und meinen Problemen gut zurecht kommt. Aber ich bin guter Dinge, diese Menschen werden Erfahrung in solchen Dingen haben.

Schön, das du endlich wieder atmen konntest!

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