Draußen

Sie geht nicht gerne raus, am liebsten bleibt sie in ihren vertrauten vier Wänden.
In die Natur jederzeit, wo sie eins ist mit sich und ihren Gedanken, spürt, lebt, frei ist, stark.
Die Menschen machen ihr Angst, zu viele Regeln zu beachten, zu viele Phrasen gedankenlos aussprechen, die meisten davon Lügen.
Aber sie will sich zwingen, will es üben, sie will lernen, bald wird sie müssen.

Die Freunde des Mannes sind zu Gast, sie muß raus, will nichts vorspielen, nicht so tun, als wäre alles wie früher.
Die Freunde sind höflich, binden sie ein in die Unterhaltung, doch sie hat nichts beizutragen, zu fern die Gedanken.

Draußen ist es heiß, das Lenkrad brennt unter ihren Händen.

Das Fest in der Stadt hat sie vergessen, viele Menschen, überall.
Trotzdem geht sie, will tapfer sein, übergeht das Zittern ihrer Beine, das flaue Gefühl im Magen.

Sie sieht Menschen jeden Alters, gut gelaunt, fröhlich, miteinander redend.
Ich will so sein wie ihr.“ denkt sie, spürt den Kloß in ihrem Hals, die aufkeimende Angst.
Trotzdem, sie setzt einen Fuß vor den andern, geht weiter, immer weiter, meidet die Menge, bewegt sich am Rand.

Die Angst ebbt ab, sie kann besser atmen, das Zittern lässt nach.

Sie beobachtet, sieht Männer und Frauen in leichter Kleidung, die Frauen in ihren kurzen Röcken, die Beine, wunderschöne Beine und nackte Schultern.
Sie bekommt ein Gefühl für den Sommer, leicht, beschwingt, im Hintergrund die Musik.

Sie findet eine leere Bank, setzt sich, beobachtet.
Das ist die Welt hinter meinem Spiegel.“ denkt sie.

Sie sammelt sich, bereit, weiter zu gehen, noch eine Runde, sie traut es sich zu.
Zwingt sich, den Schritt zu verlangsamen, tritt ein in die Menge, lässt sich mit ihr treiben, sorgsam darauf achtend, Berührungen zu vermeiden.

Als sie merkt, dass es ihr doch zu viel wird, weicht sie aus.
Sie sieht die Eisdiele und die wartende Menge davor und überlegt, ob sie es schafft, ein Eis zu bestellen.

Vor ihr in der Schlange eine Frau, etwa in ihrem Alter. Sie hat sie schon oft gesehen, von weitem, meist im Park, in den sie gern geht. Sie wirkt stark, selbstbewusst, von wilder natürlicher Schönheit. Menschen wie sie schüchtern sie ein.

Urplötzlich dreht sie sich nach ihr um, ihre Blicke treffen sich.

Wie ein Blitz durchzuckt die Angst ihren Körper. Sie denkt an Flucht, bleibt aber wie erstarrt.

Der erstaunte, fragende Gesichtsausdruck der Fremden weicht einem Lächeln.
Hey, du riechst gut!“ sagt sie, bevor sie sich wieder umdreht.

Verwirrt, wie benommen, klopfenden Herzens bemerkt sie kaum, dass sie an der Reihe ist. Nimmt kaum wahr, dass sie bestellt. Eine Kugel Vanille, obwohl sie Vanille gar nicht mag.

Den Weg zurück zum Parkplatz wie im Traum. Einen langen Moment der Besinnung, bevor sie nach Hause fährt.


Zu Hause, die Freunde noch alle da, der Geruch von Bier und Zigaretten in der Luft.
Komm, setz dich zu uns!“, aber sie mag nicht. Zu viele Eindrücke wollen verarbeitet werden, müssen verarbeitet werden.

In ihrem Zimmer setzt sie sich vor ihren Spiegel, schaut hinein, erkennt sich, ist sich fremd zugleich.

"Ich muß schreiben." denkt sie und fängt sofort damit an. Wort für Wort entspannt sich ihre Seele, ordnen sich ihre Gedanken.


Für heute hast du Großes erreicht, Lynn. Du warst mutig, bist durch die Stadt gegangen, unter Menschen.
Hast ausgehalten, die Angst ein wenig besiegt.

Und du wirst weiter üben, dich deinen Ängsten stellen und - wer weiß - eines Tages den Weg finden auf die andere Seite des Spiegels.



Seltsam.. diese Worte, ausgesprochen ohne Bedeutung, hallen nach, wirken, einzigartig:

"Hey, du riechst gut!"

Was für ein Tag..
romeomikezulu - 11. Jul, 18:33

Du hast also begonnen, für das Leben als single zu üben? Dann war das doch schon recht erfolgreich!
Und sogar ein Kompliment für Dich ist dabei rausgesprungen ;-)

Wenn Einem Menschen (zumindest in Form von grösseren Ansammlungen) nicht liegen, ist es wirklich eine gute Übung, sich bewusst unter sie zu mischen.
Auch, wenn der eigene Magen dabei Kapriolen schlägt, da muss man einfach irgendwie durch.
Und außerdem hilft das Hintergrundrauschen der vielen Stimmen und Gesichter eine zeitlang, die Lautstärke der eigenen Stille in sich zu übertönen.

Und auch diese "andere Sache" ist dabei wirklich hilfreich. Aber die kennst Du ja schon.
Schreiben :-)

Lynnie - 12. Jul, 09:42

Ich übe nicht nur für mein Leben als Single, auch für mein Leben als Mensch.
Seit Kindheit leide ich unter Angstzuständen.
Gestern habe ich geschafft, was mir selbst mit Begleitung des Therapeuten fast kaum gelang:
Ich habe ausgehalten, bin nicht geflüchtet!
Ich bin sehr stolz auf mich, aber es war doch sehr aufwühlend, die ganze Nacht lag ich wach.
Auf jeden Fall mache ich weiter, zu schön war das Gefühl.

Seit ich versuche, "mich" in Worte zu fassen, ist alles leichter, Barrieren fallen.
Es hilft wirklich.
:-)

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Hinter den Spiegeln

Die Flucht in die Phantasie um die Realität zu verstehen

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Zuletzt aktualisiert: 2. Jan, 21:53

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